Um 1900 erlebte Berlin eine regelrechte Bevölkerungsexplosion, was dazu führte, dass die Friedhöfe hoffnungslos überfüllt waren. Um dieses Problem zu lösen, wurden die Leichen per S-Bahn aus der Stadt transportiert. Ein Streifzug zur „Friedhofsbahn“ im Berliner Südwesten, deren Reste noch heute Lost-Place-Abenteurer in ihren Bann schlagen.
Am 12. August 1961, um etwa 20 Minuten vor zwei Uhr früh, fuhr eine Bahn auf dem leeren S-Bahnhof Stahnsdorf ab. Niemand stieg ein. Zwei Minuten später hörte man das Geräusch des Triebwagens, als er vom Bahnhof Dreilinden weiter nach Wannsee startete. Eine halbe Stunde später sollte die Bahn wieder zurückkommen, doch sie kam nicht. Stattdessen wurden zwei Angehörige der Transportpolizei gesichtet, die der Zugabfertigerin mitteilten, dass ihre Arbeit hier beendet sei und sie nicht mehr wiederkommen solle.
Heute wächst Gras über die S-Bahn-Strecke von Stahnsdorf nach Wannsee. Wald und Heide haben den südwestlichen Teil Berlins fast vollständig zurückerobert. Die Strecke ist die kürzeste aller stillgelegten Strecken rund um Berlin, aber auch die bekannteste und sie wird am leidenschaftlichsten nachgewandert. Denn welche andere Nahverkehrsstrecke in Berlin wurde eigens dazu errichtet, um Leichen zu transportieren?
Um die Geschichte der alten Strecke von Wannsee nach Stahnsdorf zu erkunden, kann man nun einen ein- bis zweistündigen Spaziergang auf der alten Trasse machen. Hier entdeckt man noch Fundamente von Signalmasten oder Weichenhebeln und einige vereinzelte Gleisschottersteine unter dem Moos. Es ist ruhig und die Phantasie wird angeregt durch die Böschungen, geraden Trassen und Kurven.
Der Boden hat die erste Eisenbahnlinie Preußens verschluckt, die im Jahr 1838 von Berlin nach Potsdam führte. Die Fundamente der Brücken der sogenannten „Stammbahn“ sind noch zu erkennen. Auch der alte „Königsweg“, auf dem die Hohenzollern zwischen Berlin und Potsdam verkehrten, kreuzt die Strecke. Nebenan verlief auch die erste Transitautobahn nach Marienborn und der Übergang nach München. Heute verläuft die Strecke auch noch über den Teltowkanal.
Die Bahnstrecke von Stahnsdorf nach Wannsee hatte von Anfang an eine besondere Funktion: den Transport von Toten. Sie wurde daher auch „Friedhofsbahn“ genannt. In den frühen 1900er-Jahren war Berlin stark gewachsen und es gab ein Problem mit der Bestattung der Verstorbenen. Die Friedhöfe waren voll und es mussten neue Grundstücke außerhalb der Stadt erworben werden. Um die Leichen dorthin zu transportieren, einigte sich die Berliner Stadtsynode mit der preußischen Staatsbahn. Die Synode kümmerte sich um den Bau und die Unterhaltung der Bahn, während die Staatsbahn die Ländereien bereitstellte. Natürlich durften auch lebende Fahrgäste mitreisen.
Die Bahnstrecke blieb jedoch nicht von Kontroversen verschont. Im Krieg wurde sie unterbrochen, als die Brücke über den Teltowkanal zerstört wurde. Nach dem Mauerbau durften auch West-Berliner weiterhin in Stahnsdorf bestattet werden, doch nach der Abriss der Brücke war damit Schluss. Eine Wiederinbetriebnahme der Bahnlinie samt Weiterführung nach Teltow wurde immer wieder diskutiert, bisher aber ohne Erfolg.
Für Spaziergänger entlang der Trasse der Friedhofsbahn gibt es auch geführte Touren, bei denen man mehr über die Geschichte dieser besonderen Bahnstrecke erfahren kann.