Brennpunkt Neukölln – das ist jetzt gerade wieder ganz unmittelbar zu erleben. Barrikaden brennen, Polizisten werden angegriffen und Parolen skandiert. Bei den Solidaritätsbekundungen für Palästina hält man sich nicht lange mit Fragen des Demonstrationsrechts auf. In der Berliner Gesellschaft hat man sich daran gewöhnt, den Stadtteil Neukölln zu externalisieren. Es wird als Aufruhr der Fremdheit betrachtet. Nicht selten werden dabei in vermeintlich soziologischem Jargon Thesen über eingewanderte Konflikte ausgebreitet. In Stuttgart führte die Spur kürzlich nach Eritrea, von Neukölln aus geht es zweifelsfrei in den Nahen Osten.
Ganz so fern sind die Konflikte allerdings nicht, wenn man sich die Parolen anhört. Vorm Auswärtigen Amt wurde zuletzt lautstark „Free Palestine from german guilt“ gerufen, als hätten die Protestierenden zuvor an einem Workshop über deutsche Erinnerungspolitik teilgenommen. Die Botschaft ist an geschichtsklitternder Obszönität nicht zu übertreffen. Sie ist an eine alternde Kerngesellschaft adressiert, die sich, bitteschön, von ihrer historischen Last befreien möge: die deutsche Verpflichtung, sich zur Geschichte des Holocaust zu bekennen.
Die Spur führt nach Kassel
Palästina von der deutschen Schuld befreien – noch nie gehört? Es war bereits zu lesen, seriell plakatiert auf der Kunstausstellung Documenta 15 in Kassel. Das indonesische Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa wehrte die gegen sie vorgebrachten Antisemitismusvorwürfe wiederholt als rassistisch motiviert ab und verwahrten sich, wie sie es formulierten, gegen die Art und Weise, „deutsche Schuld und Geschichte auf den palästinensischen und andere antikoloniale Kämpfe zu projizieren und zu übertragen“. War das nicht deutlich genug?
Was zum Ende der Documenta nach einer ermüdenden Dauerdebatte beinahe unbemerkt im Kasselaner Kunstraum plakatiert wurde, hat nun die Straße erreicht. Es geht um unser geschichtspolitisches Selbstverständnis – gerade auch in Neukölln.
Gemäß einem Bericht der Berliner Zeitung.