Geheimnisse in der Familie
Berlin, Ende der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen, Simone und Anja, feiern, tanzen, reisen und verlieben sich im Osten der Stadt. Sie werden erwachsen und genießen ihr Leben, bis die Mauer fällt und alles sich in rasender Geschwindigkeit verändert. Simone reist durch die Welt, während Anja ein Kind bekommt, heiratet und zu arbeiten beginnt. Obwohl sie sich auseinanderleben, verlieren sie sich nicht aus den Augen. Bis zu dem Tag, an dem Simone sich das Leben nimmt und Anja zurückbleibt.
Wer war Simone? Und warum hat sie diesen Schritt unternommen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, unternimmt die Autorin Anja Reich eine Reise zurück in das Leben ihrer Freundin und in ihr eigenes. Sie spricht mit Angehörigen, Freunden und Experten, durchforstet Briefe, Tagebücher und andere Dokumente und fasst das Ergebnis dieser Suche in einem Buch zusammen.
Das Buch „Simone“ von Anja Reich wird am 15. August 2023 im Aufbau Verlag veröffentlicht. In einem exklusiven Vorabdruck bietet dieser Artikel einen Einblick in die Anfänge der Geschichte.
Einen Tag vor ihrem Tod rief Simone Anja noch einmal an. Anja erinnert sich genau, wie es war, doch damals hatte sie keine Zeit. In dem Moment stand sie im Flur ihrer Wohnung und hatte alle Hände voll zu tun. Ihr Sohn spielte auf dem Boden, ihre Schwester lief vorbei, ihre Mutter unterhielt sich mit ihrem Vater. Anja beobachtete sie heimlich aus den Augenwinkeln.
Es war im Oktober 1996, der vierte Geburtstag ihres Sohnes und der 58. Geburtstag ihres Vaters. Obwohl sie am gleichen Tag Geburtstag hatten, hatten sie nie gemeinsam gefeiert. Anjas Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie sechs Jahre alt war, und danach durfte sie ihren Vater nur selten sehen. Lange Zeit wusste sie nicht einmal, wann er Geburtstag hat. In ihrer Familie waren bestimmte Dinge, über die man sprach, und andere, über die nicht gesprochen wurde. Die Dinge, die Anja interessierten, gehörten zu letzterer Kategorie.
Als ihr Sohn geboren wurde, erinnert sich Anja daran, dass ihre Schwester zu ihr sagte: „Unser Vater hat heute auch Geburtstag“. An dem Tag kam er ins Krankenhaus und zum ersten Mal seit der Scheidung sah Anja ihre Eltern wieder zusammen. Sie standen am Bett ihres Sohnes und betrachteten ihn. Anja dachte, dass es ein Zeichen war, die Familie wieder zusammenzuführen.
An jenem Oktobertag sollte es soweit sein. Anja verließ die Redaktion früher als gewöhnlich, holte ihren Sohn aus der Kita ab und kehrte nach Hause zurück. Um fünf Uhr klingelte es an der Tür. Ihr Vater stand davor. Sie umarmte ihn und bemerkte, wie seine Bartstoppeln kratzten. Er roch nach Pfeifentabak.
„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Anja.
Er strich ihr über die Wange und fragte, wie es ihr geht. Anja antwortete, dass es ihr gut geht und sie viel zu tun hat. Dann bereute sie ihre Antwort, denn sie erinnerte sich daran, wie gerne ihr Vater etwas zu tun gehabt hätte. Sein Institut war vor Kurzem geschlossen worden, und er hatte seine Arbeit als Chemiker verloren. Um sich die Zeit zu vertreiben, holte er jeden Tag Anjas Sohn von der Kita ab und unternahm Ausflüge ins Naturkundemuseum – so wie früher mit Anja und ihrer Schwester.
Anja erinnert sich, wie ihr Sohn herbeigerannt kam, als sie mit ihrem Vater sprach. Ihr Vater gab ihm sein Geschenk. Es war eine Videokassette, die Anjas Sohn aber bereits hatte. Er warf sich auf den Boden und fing an zu schreien. Anjas Schwester schlug vor, die Kassette umzutauschen. Anjas Mutter nahm ihrem Vater die Jacke ab. In diesem Moment hätte auch Anja am liebsten geschrien.
Plötzlich fragte Anjas Mann, ob alles in Ordnung sei. Anja erzählt, dass dies natürlich nichts mit Simone zu tun hat, aber sie erzählt es, weil sie nach Erklärungen sucht, warum sie nichts bemerkte, als Simone sie anrief. Sie war mit sich selbst beschäftigt und hing in der Vergangenheit fest, sodass sie nicht bemerkte, was in der Gegenwart geschah.
Das Telefon klingelte, als Anjas Familie gerade das Abendessen beginnen wollte. Es war ein altes Festnetztelefon mit einer Strippe, die mit dem Hörer verbunden war. Anja ließ es klingeln, in der Hoffnung, dass der Anrufer irgendwann aufgeben würde. Doch das Telefon klingelte weiter.
Schließlich verlor Anjas Mann die Nerven und hob den Hörer ab. Anja beobachtete, wie er telefonierte und lachte. Er schien die Pause vom Kindergeburtstag und Anjas Familienexperiment zu genießen. Anja wollte sich gerade zu den Gästen setzen, als sie ihren Mann „Simone“ flüstern hörte.
Simone! Anja und Simone kannten sich seit ihrer Jugend in Berlin-Lichtenberg. Anja war früher mit Simones Bruder zusammen gewesen. Als die Beziehung zu Ende war, blieben Simone und Anja jedoch weiterhin Freundinnen. Simone schrieb Karten, kaufte Geschenke und besuchte Anja manchmal überraschend. Ihr Aussehen war beeindruckend – groß, schlank, dunkle Haare, mandelförmige Augen und Augenbrauen, die fast zusammenwuchsen. Simone wurde oft für eine Spanierin oder Südamerikanerin gehalten, da ihre Mutter Tschechin war. Sie sprach fließend Spanisch, Russisch und Französisch, tanzte Tango und Salsa, besuchte Friseursalons, spielte Gitarre und fuhr mit ihren Eltern in den Urlaub.
Anja erinnerte sich, dass es in der DDR niemandem so gut ging wie Simone. Sie führte das Leben, von dem sie immer geträumt hatte – ein Leben ohne Mängel. Simone war ein „Ostberliner High-Society-Girl“, für das die Mauer zum genau richtigen Zeitpunkt fiel. Mit zw