Die Rückkehr an den Ort der Kindheit kann für viele Menschen eine nostalgische Erfahrung sein. Doch für Gertrud Chodziesner war diese Rückkehr eine erschütternde Begegnung mit der Vergangenheit. Im Winter 1940 besuchte sie das Haus in der Ahornallee in Westend, in dem sie aufgewachsen war, nur um festzustellen, dass es nun eine Polizeistation ist. Dieser Besuch, so beschreibt es die Biografin Friederike Heimann, gleicht eher einer unwirklichen Traumszene inmitten der sich verschärfenden Verfolgung durch die Nazis.
Trotzdem betrat Gertrud Kolmar, wie sie als Schriftstellerin bekannt war, das Haus und wurde vom Hausmeister höflich behandelt. Sie fand jedoch heraus, dass nichts Vergleichbares mehr zwischen den Amtsstuben und ihren eigenen Zimmern existierte. Sie verzichtete sogar darauf, das Obergeschoss zu besichtigen. In Briefen an ihre Schwester Hilde Wenzel, die in die Schweiz geflüchtet war, berichtete Gertrud Kolmar vorsichtig von dieser Erfahrung und von vielen anderen, die sie als Jüdin in Berlin erlebte.
Die Biografin selbst besuchte die Ahornallee im Jahr 2014, zusammen mit Gertrud Kolmars Neffen Ben Chodziesner, der extra aus Australien angereist war. Ben, der seine „Tante Trude“ erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens kennenlernte, besuchte zusammen mit ihr die Orte, die für die Familie Chodziesner eine bedeutende Rolle spielten: die Ahornallee, den Kurfürstendamm und das Bayerische Viertel. Diese Begehungen und Begegnungen machen das Buch über Gertrud Kolmar besonders lesenswert.
Die Biografin Friederike Heimann integriert in ihrem Werk Biografie, Geschichte und Psychogeografie. So beschreibt sie beispielsweise, wie Gertrud Kolmar sich auf den Weg zu einer Lesung ihres Cousins Walter Benjamin machte, nachdem sie das Haus am Kurfürstendamm verlassen hatte. Auch der Ku’damm und die Meinekestraße, Orte, die heute von Geschäften wie Budapester Schuhe und Marc O’Polo Mode eingenommen werden, spielen in der Geschichte eine Rolle.
Die Geschichte von Gertrud Kolmar nimmt jedoch eine tragische Wendung. Vom Bahnhof Grunewald aus wurde sie am 2. März 1943 deportiert und kurz darauf ermordet. Ihr Vater, bei dem sie statt zu fliehen geblieben war, wurde ebenfalls kurz zuvor ermordet. Das Mahnmal Gleis 17 erinnert an diese schreckliche Deportation, bei der 1758 Juden aus Berlin nach Auschwitz gebracht wurden.
Die neue Biografie über Gertrud Kolmar ist im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen und bietet neben ausführlichen Interpretationen ihrer Lyrik und Prosa auch Einblicke in das Leben der Dichterin während der Zeit des Nationalsozialismus. Besonders die Gedichte, die in der DDR unter dem Titel „Das Wort der Stummen“ erstmals veröffentlicht wurden, zeugen von ihrer Auseinandersetzung mit der Nazizeit. Gertrud Kolmars Geschichte zeigt uns die erschütternden Auswirkungen des Holocausts und die Notwendigkeit, sich an diese schreckliche Zeit zu erinnern.